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Lebensraum Fluss

  Hier: Video zur Auen-Dynamik

 

Flüsse sind Teil des globalen Wasserkreislaufes und sie sind die Lebensadern unserer Landschaft.  Bäche und Flüsse sorgen mit ihrem Wasser für einen hohen Grundwasserstand  und sie gestalten mit ihren Überschwemmungen die vielfältigen Lebensräume der Auen: Fließgewässer sind die Quelle der Biodiversität unserer Heimat. Aber unsere Flüsse können ihre Aufgaben schon lange nicht mehr erfüllen. Durch die unzähligen Eingriffe des Menschen in den Wasserhaushalt und die nahezu flächendeckende wirtschaftliche Nutzung ihrer Uferbereiche sind mittlerweile alle Flüsse und nahezu alle unsere Bäche ihres natürlichen Zustandes beraubt worden. Bei einem Sonntagsausflug entlang der Hochwasserdämme, zum Beispiel an der fast durchgängig kanalisierten Donau, erkennt der Spaziergänger oft nicht einmal, welche natürlichen Ressourcen hier bereits verloren gegangen sind.

Und wie mag es da über unsere Kenntnisse der ökologischen Situation im Fluss selbst aussehen? Als Landbewohner erscheint uns die Unterwasserwelt nämlich als fremd und fern, sodass wir wohl nur selten einen Gedanken daran verschwenden. Das ist erklärbar, erleben wir die Wasseroberfläche doch als eine natürliche Barriere, die unseren üblichen Sicht- und Erfahrungsraum begrenzt. So bleiben uns die Bedürfnisse der aquatischen Organismen ebenso verborgen wie die Schäden, die wir ihrem Lebensraum mit unseren Aktivitäten zufügen.

Wagen wir daher einen vorsichtigen Blick in den Lebensraum Fluss.

Pflanzen bilden zusammen mit Photosynthese betreibenden Bakterien (Cyanobakterien)  die Grundlage aller Nahrungsketten. Sie sind die primären Biomasseproduzenten.  Wasserpflanzen, die kennen wir aus Tümpeln, aber in Bächen und Flüssen: Gibt es da überhaupt Wasserpflanzen? Höhere Pflanzen, die bevorzugen tatsächlich stehende oder in langsam fließende Gewässer. Schnell fließende Gewässer sind nämlich schwierige Lebensräume für Blütenpflanzen. Wie unpraktisch Blüten im nassen Element sind, das wurde bereits im Kapitel „Wie sich Wasserpflanzen vermehren“ eingehend beschrieben.

Zusammen mit frei schwimmenden und am Boden wuchernden Algen bilden Wasserpflanzen daher nur in stehenden Gewässern und langsam fließenden Bächen und Flüssen die Grundlage der aquatischen Nahrungskette. Mit anschwellender Strömung nimmt der Pflanzenwuchs ab. Zuerst verschwinden die freischwimmenden Algen, das Phytoplankton, und nach und nach auch alle höheren Pflanzen. Auch Uferpflanzen können sich an schnell fließendem Wasser kaum halten.

Daher gibt es in den frei fließenden Abschnitten unserer Flüsse kaum Wasserpflanzen. Trotzdem basieren auch die Nahrungsketten in schnell fließenden Bächen und Flüssen der Alpen und des Berglandes auf pflanzlicher Primärproduktion. Eine recht ergiebige Quelle pflanzlicher Biomasse ist der sogenannte Biofilm. Auf die Bedeutung dieses flächigen Bewuchses aus Algen und Mikroorganismen, der alle festen Strukturen - ob Steine, Kiesel, Laubstreu oder Treibholz - mit einem glitschigen Aufwuchs überzieht, wurde bereits eingegangen (Biofilm).

In Kürze: Die bedeutendsten Lebewesen des Biofilms sind Grünalgen, Kieselalgen und Blaualgen, die mit ihrer Photosyntheseleistung zu den Primärproduzenten aquatischer Ökosysteme zählen. Der Biofilm beherbergt eine umfangreiche Gesellschaft aus Pilzen und Bakterien, die mit diesen Algen in Symbiose leben oder sich als Destruenten von ihren organischen Abfällen ernähren. Dieser Aufwuchs aus Produzenten und Destruenten bildet die Nahrungsgrundlage für Primärkonsumenten,  die wie Schnecken, Muschelkrebse, Hakenkäfer oder die Larven bestimmter Eintagsfliegen, Steinfliegen oder Lidmücken vom Biofilm leben.  Von diesen Vegetariern ernähren sich die Larven von Libellen oder bestimmter Stein- und Köcherfliegen. All diese wirbellosen Organismen bilden die Nahrungsgrundlage der großen Unterwasserjäger, allen voran die Raubfische, aber auch Wasseramsel, Eisvogel oder Wasserspitzmaus.

Aber unsere Fließgewässer verfügen noch über eine zweite Quelle pflanzlicher Biomasse: Laub, Totholz und abgerissene Pflanzenteile. Für die beschatteten Bäche der Wälder, in der keine pflanzliche Primärproduktion stattfinden kann, bilden tote organische Bestandteile oft die einzige Nahrungsgrundlage. Dabei beschränkt sich die Zufuhr nicht nur auf das Herbstlaub oder die Pflanzenteile, die unmittelbar aus der Ufervegetation in das Wasser fallen. Bei natürlichen Fließgewässern ist der Eintrag durch Überschwemmungen meist viel wichtiger. Hier zeigt sich die Bedeutung des Waldes als Nährmutter des Ökosystems Aue auf besonders eindrucksvolle Weise: Bei Hochwasser bedient sich der Fluss gleichsam persönlich an der Quelle pflanzlicher Primärproduktion. So wie der Fluss den Auwald mit lebensnotwendigem Wasser und fruchtbarem Naturdünger versorgt, so ernährt der Wald im Gegenzug den Fluss: ein Lehrstück für die enge Vernetzung und gegenseitige Abhängigkeit von Aue und Fließgewässer.

Durch Überflutungen gelangen erstaunliche Mengen an Blättern, Totholz, entwurzelter Vegetation und abgerissenen Pflanzenteilen in Bäche und Flüsse. Vieles wird irgendwo am Ufer angespült und steht hier- sozusagen als Biomassedeponie - auch bei geringeren Änderungen des Wasserstandes wieder zur Verfügung. Was fortgerissen wird, sammelt sich bald in strömungsarmen Gewässerbereichen. Diese gibt es selbst in turbulent fließenden Bächen und Flüssen hinter Steinblöcken und umgestürzten Bäumen, vor allem aber zwischen den Steinen und Kieseln des Flussbettes. Die Strömungsgeschwindigkeit nimmt ohnehin zur Gewässersohle hin ab. Im Lückenraum des Gewässergrundes ist aber nicht nur die Strömung viel geringer als im fließenden Wasserkörper, auch die Temperaturschwankungen nehmen ab, das „Wasserklima“ wird konstanter. Das alles sind ideale Bedingungen für Organismen, die den Abbau pflanzlicher Überreste zu ihrer Aufgabe gemacht haben: die Destruenten. Es sind vielfach Arten der gleichen Tiergruppen, die sich bereits als Biofilmfresser vorgestellt haben: Larven von Stein-, Köcher- und Eintagsfliegen, Flohkrebse, Schnecken, Fadenwürmer und Wenigborster bis hin zu Vertretern der Wirbeltiere, den Kaulquappen. Diese Form der Ernährung ist offensichtlich so attraktiv, dass sie in fast allen Stämmen des Tierreiches ihre Anhänger gefunden hat.

Die Verwertung pflanzlicher Überreste hat seine Vorteile, denn schließlich bestehen sie aus energiereichen Biomolekülen. Zwar sind abgestorbene Pflanzenteile schwerer verdaulich und weniger kalorienreich als eine fette und proteinreiche tierische Kost (und auch der Mangel an Stickstoff ist ein Problem), aber dafür können sich die Resteverwerter auch den Aufwand für die Verfolgung von Beute ersparen. Destruenten können daher, anders als Räuber, auf Investitionen in energieaufwendige Bewegungsapparate verzichten. Sie setzen sich einfach in die massenhaft vorhandene Nahrung und fressen sich durch. Destruenten sind daher selten mobil, eine Wasserschnecke kann es eben ruhig angehen lassen. Kaum zwei Destruenten bearbeiten die Nahrung auf die gleiche Weise. Es besteht Arbeitsteilung zwischen den unterschiedlich spezialisierten Mitarbeitern der biologischen Abfallentsorgung. So werden kompakte Pflanzenteile zunächst von Blattfressern und Zerkleinerern wie Flohkrebsen, Wasserasseln oder den Köcherfliegenlarven der Gattung Serciostoma angefressen. Die Blattreste und Ausscheidungsprodukte fallen auf den Gewässerboden, wo sie von Sedimentfressern weiter aufgearbeitet werden. Zu diesen gehören die im Schlamm lebenden Fadenwürmer, Wenigborster oder die Larven bestimmter Zuckmückenarten.

Wieder andere Spezialisten unter den Zuckmückenlaven filtrieren die durch den Abbauprozess freigesetzten organischen Partikel, den sogenannten Detritus, aus der Strömung. Zu den Detritusfressern gehören auch Muscheln, zum Beispiel die stark gefährdete Bachmuschel oder die kleinen Erbsenmuscheln. Filtrierer bewegen sich kaum, sie lassen sich die Nahrung einfach in den Mund treiben. So heften sich die Larven der Köcherfliege Brachycentrus oder die der Kriebelmücke Simulium an das Bodensubstrat und sieben die Nahrungspartikel mit ihren fächerförmigen Beinen aus dem Wasser. Die Köcherfliegenlarven der Gattung Hydropsyche bauen mit ihren Spinndrüsen gar kunstvolle Fangnetze. Bakterien, Pilze und einzellige Urtierchen übernehmen als Resorbierer oder Mineralisierer die letzte Stufe des Umbaus organischer Überreste in ihre anorganischen Bestandteile. Alle an der Beseitigung biologischer Abfälle beteiligten Organismen dienen selbst wieder als Beute für die Ernährung von Räubern, vor allem räuberischen Wasserinsekten und deren Larven und fleischfressenden Fischen.

Die Mehrzahl der erwähnten Bewohner unserer Flüsse dürfte selbst dem Naturfreund unbekannt sein. Ob Schmetterlinge, Fliegen oder Heuschrecken, wir kennen zwar in der Regel nicht die Namen der einzelnen Arten, aber wir wissen doch, wie sie aussehen. Aber von den Lebewesen der Unterwasserwelt können wir uns oft nicht einmal ein Bild machen. Und das ist ein ernsthaftes Problem. Ob Wasserverschmutzung, Flussbegradigung oder Staudämme, wir ahnen, dass wir damit in die Lebewelt der Wasserbewohner eingreifen. Aber können wir auch die Dimensionen unseres Handels abschätzen? Unsere auf das Landleben ausgerichteten Alarmsysteme versagen bei der Abschätzung der ökologischen Bedrohung der Unterwasserwelt. Nicht zuletzt wegen der mangelhaften Kenntnisse über die Ökologie unserer Gewässer fehlt auch oft die Einsicht, dass unsere Verantwortung nicht an der Wasseroberfläche endet. Wir müssen erkennen, dass Wasser nicht allein ein jederzeit verfügbarer und nahezu kostenloser Rohstoff ist, sondern auch Lebensraum für eine artenreiche Fauna und Flora, und dass uns im Gegenzug nur ein ökologisch intaktes Ökosystem auch eine hohe Qualität der Ressource Wasser verbürgt.

 

 Tiere aus einer anderen Welt: Eintagsfliegenlarve (oben links), Steinfliegenlarve (oben rechts), Wasserassel (mitte links), Wassermilbe (mitte rechts), Köcherfliegenlarve (unten).

 

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